BENDER, IDA

 

   

NACHT

 

Das Grau des Tages verdunkelte sich. Wanjka, der 18jährige Russe, der die Klötze mit seiner Axt spaltet, legt die letzten Scheite auf den langen Stoß Holz, steckt den Stiel seiner Axt unter den Gürtel und geht ohne ein Wort zu sagen dem schmalen Steg zu, den die Holzfäller hier in dem brusthohen Schnee getreten haben. Das war das Zeichen für die zehn deutschen Mädchen seiner Holzfällergruppe - Feierabend. Paarweise mit 1,20 Meter langen Handsägen fällen wir Bäu­me hier in der Tajga - dem sibirischen Urwald.

Im Gänsemarsch gehen die Mädchen auf dem Steg nach „Hause“, in die aus Rundholz gebaute Baracke, die extra für die zur Zwangsarbeit Mobilisierten im Wald am hohen Jenissejufer errichtet worden ist. Ich schließe mich als letzte der Reihe an. Schweigend, nur ab und zu fällt ein Wort, eine kur­ze Bemerkung, schleppen wir uns langsam den Waldpfad entlang. Wir sind so erschöpft, dass wir „kaum noch lallen“ können. Der einzige Gedanke, den nagenden Hunger bald stillen zu können, gibt Kraft, die Beine vorwärts zu bewegen auf dem Pfad am Rande der großen freien schon im Novem­ber abgeholzten Fläche entlang.

Eine weiße Schneedecke hat alle Stümpfe und Unebenheiten des Waldbodens bedeckt. Weiter hinten links steht noch der unendliche dichte schwärze Wald aus Tannen und Föhren, die wir zu fällen haben. Mit diesem Holz werden im Sommer die Schiffe unter Dampf gesetzt, die den Jenissej-Fluss auf und ab fahren, Lebensmittel und Passagiere von den besiedelteren südlicheren Orten Sibiriens hierher in den abgelegenen wenig besiedelten Norden am Polarkreis befördern.

Der kurze Polartag, während dem der Himmel nur grau wird, nie eine richtige Tageshelle zu sehen ist, hat sich schnell in Nacht verwandelt. Still ist es ringsum, kein Zweiglein regt sich, sogar die Wipfel der hohen Bäume rauschen in diesen Abendstunden nicht. Regungslos wie Monumente stehen die hohen Tannen und Föhren. Nur ab und zu plumpst ein kopfgroßer Schneebrocken von einem Ast herab in die große weiße Ebene unter den dunkelgrünen Riesen.

Es ist schon so dunkel, dass man den aufstiebenden Schnee nicht sehen kann, den der Schneeball beim Fallen ausgelöst hat. Aber vor meinem geistigen Auge entsteht das vielmals gesehene Bild: wenn ich und Katja den Stamm eines hun­dertjährigen Baumes mit dem Beil von einer Seite einge­hackt, danach von der anderen mit der Handsäge fast ganz abgesägt haben, wiegt der Riese sich hin und zurück als überlege er, wohin er fallen solle, als suche er sich eine Stelle in dem tiefen weichen Schneebett. Dann fällt er und wirbelt feinen Schneestaub haushoch auf. Dieser rieselt dann lang­sam zur Erde zurück. Schon tausendmal gesehen bewundere ich dieses Schauspiel jedes Mal von neuem. Doch keine Zeit zum Staunen, wir müssen den gefällten Stamm zu 90cm langen Klötzen zersägen, die Wanjka dann spaltet und stapelt. Und wir müssen unser Tagessoll leisten. Wer das nicht erfüllt, bekommt vom Aufseher nur eine ge­schmälerte Brotration.

Dieses kleine Stückchen schweres, nasses Mischbrot aus aus­sortiertem Roggen und Hafer schlechtester Qualität ist unsere Hauptnahrung. Es ist Krieg. Im Lande werden die Lebens­mittel nur limitiert auf Lebensmittelkarten verkauft. Bei uns verbannten Wolgadeutschen wird besonders streng auf die Erfüllung des Arbeitssolls geachtet.
Ich eile den anderen nicht nach, genieße die Stille, die Ruhe fern von den Sorgen, dem Treiben, dem Wortgeplänkel und den kleinen Streitigkeiten des Tages. Und wähne mich in dem Palast der Schneekönigin: Rings um mich erstreckt sich eine große mit tiefem Schnee bedeckte Ebene. Nur noch we­nige junge Bäumchen stehen vereinzelt. Rechterhand am Rand der freien Fläche ragen hohe Tannen wie eine Wand himmelhoch empor, grenzen uns dem steilen Ufer entlang vom großen Fluss ab. Die Wand schützt uns vom starken Luftzug vom Fluss her.
F-f-f-r-r-r - von meinen Schritten aufgescheucht, fliegen eini­ge weiße Waldhühner auf. Schade, sie hatten sich schon in den tiefen Schnee zur Nachtruhe gekuschelt. Inzwischen hat sich das Himmelszelt in ganz tiefes Dunkel­blau gekleidet, dadurch leuchtet die unberührte Schneedecke besonders hell. Gibt es denn keine Sterne heute dort oben? Ich richte meine Blicke hinauf, suche die mir aus der Kind­heit bekannte Gestirne. Von meiner Großmutter Susanna ha­be ich viele Erzählungen über das Leben, die Bräuche unserer Vorfahren, der deutschen Kolonisten an der Wolga, in Erin­nerung. In den ersten Jahren ihrer Siedlung in dem fremden Land, wenn die Kolonisten im Herbst mit ihren mit Weizen vollgeladenen Leiterwagen aus den weit vom Fluss gelegenen Dörfern zum Markt in die Stadt an der Wolga fuhren, mussten sie oft in freier Steppe übernachten. Da galten strenge Re­geln: den Wagen umdrehen, dass die Deichsel in die Richtung zeigte, von wo sie kamen, damit sie am nächsten Morgen wussten, in welcher Richtung weiter zu fahren war. Meine Augen suchen am dunkeln Himmelszelt das Sternbild „Großer Wagen“. Wohin ist den die Deichsel dieses Him­melswagens heute gerichtet? An die Wolga? Nach Deutsch­land, an die Stadt Mainz, von wo meine Ur-ur-ur-...-Vorfahren vor 180 Jahren nach Russland gekommen sind?

Der Frost ist stärker geworden, dringt durch die wattierten Jacke und Männerhosen bis auf die Haut. Ich beschleunige meine Schritte. Da steht auch die große Birke. Morgens, wenn wir bei Tagesgrauen an ihr vorbei zu unserer Waldpar­zelle eilen, bewundere ich ihren winterlichen Schmuck. Ihre Äste und Zweige sind dick mit Reif bedeckt, es scheint sie habe einen kostbaren Spitzenumhang und wertvolles Silber­geschmeide angelegt. Von der Birke biegt der Pfad rechts ab, das steile Ufer hinab zum Fluss, wo einzelne große und kleinere Eisschollen im Spätherbst bizarr zusammen gefroren sind. Mit einem kräfti­gen Fußtritt breche ich mir eine Scheibe Eis ab und mit dieser unterm Arm gehe ich den Pfad am Wächterhäuschen vorbei den Hang hinauf zu unserer Baracke.
Die Eisscheibe wird im Essnapf auf dem kleinen Kanonenöfchen geschmolzen, das meine Abendsuppe aus zwei Esslöffel Hafergraupen, Salz und Wasser und den Morgentee geben. Der Aufseher steht an der Tür seines Blockhauses und rügt mich, dass er so lange auf mein Vorbeigehen warten musste. Ich lass ihn brummen, geh schweigend weiter.

Eigentlich ist er kein böser Mensch. Ist unser Aufseher geworden, als man uns, die verbannten Deutschen, zur Zwangsarbeit hier her gebracht hatte. Sein kleines Häuschen aus Rundholz hatte er vor etwa 15 Jahren hier errichtet, um Fallen auf Pelztiere - Blaufüchse, Polarfüchse, Zobel, Luchse zu stellen. Im Som­mer fing er mit Stellnetzen Fische und lebte ziemlich frei, fern von Obrigkeiten. Eines Tages holte er sich ein Weib, das ihm zwei Söhne gebar. Da seine Hütte hier an der Stelle steht, wo man nun die Holzvorräte für die Schiffe geplant hat, wur­de ihm die Aufsicht über die hierher verbannten Volksfeinde aufgetragen.
Er braucht nicht neben den im Wald arbeitenden Frauen stehen, sie beaufsichtigen. Die Tajga ist so dicht, un­passierbar, dass eine Flucht von hier gänzlich ausgeschlossen ist. Das hatten früher schon andere, mit allen Wassern gewa­schene ehemalige Kriminelle versucht und sind entweder von wilden Tieren aufgefressen worden, oder haben, zum Flussufer zurückgekehrt, aufgegeben. Aber vom Aufseher bekom­men wir unser Stückchen Brot entsprechend unseren Leistun­gen. Morgen früh wird er den aufgestapelten Holzstoß genau messen und berechnen, ob unsere Holzfällergruppe ihr Soll erfüllt hat, und unsere Brotration entsprechend abwiegen. Bergan gehen meine Beine langsamer.

Dunkel ist das Him­melszelt. Die Sternlein sind heute so weit und winzig klein, als ob sie von dem klirrenden Frost sich zusammengezogen hätten, kleiner geworden seien. Oder haben sie sich in warme Pelze eingehüllt und gucken nur mit einem Äuglein herunter auf die Erde. Da ist es dunkel. Der dichte Tannenwald steht wie eine schwarze Wand um die abgeholzte Waldparzelle. Diese hohe schwarze Wand und die dunkle Himmelsdecke sind wie Grenzen einer Gefängniszelle. Meines Gefängnisses, sind Grenzen meines Lebens, meiner Tätigkeit: nur bis hierher, keinen Schritt weiter!

Kaum zu glauben, vor nicht einmal anderthalb Jahren leuch­tete mir die goldene Sonne vom hellblauen Himmel. Ich stu­dierte an einer Hochschule Fremdsprachen und träumte mei­ne lichten Zukunftsträume. Mit Kenntnis mehrerer Sprachen werde ich viele andere Länder bereisen können, andere Völ­ker, viele interessante Menschen, ihre Kulturen, Gedichte, Lieder kennen lernen, Museen besuchen, Kunstwerke be­wundern und verstehen können. Welch interessante Tätigkeit wird sich mir bieten zum Wohl der Völker! Anstatt dessen schleppe ich mich heute todmüde im Dunkel auf dem schmalen Waldpfad bei 40 Grad Frost zu meinem dürftigen Obdach - in die aus Rundholz gezimmerte Hütte 4x6 Meter groß-klein.

Gegenüber der Eingangstür ein kleines Fenster, das bei dem Frost von innen mit Eis bedeckt ist und wenig Tageslicht durchlässt. Das ist für uns eigentlich nicht von Bedeutung, denn wir sind ja tagsüber im Wald, nur nachts in der Baracke. Die zwei Längswände der Baracke entlang sind durchgängige Pritschen aus dünnen Stangen gemacht, auf denen wir alle - 30 deutsche Mädchen und Frauen und der Russe Wanjka schlafen. Nur die elementarsten menschlichen Bedürfnisse können hier getilgt werden: die Hände und Gesicht mit Schnee abreiben, das ist die einzige hier mögliche Hygiene. Den Durst mit Wasser, das aus Schnee oder Eis getaut ist, den Hunger notdürftig mit einer undefinierbaren Suppe und dem kleinen Stückchen Brot stillen.

„Aber der Mensch lebt doch nicht vom Brot allein!“ schreit mein Verstand und mein Herz. Ich habe nicht die geringste Möglichkeit, meine kultu­rellen Bedürfnisse zu stillen. Ich sehne mich nach Lesestoff, nach einem Buch, einer Zeitschrift oder Zeitung. Irgendwas zum Lesen! Von Filmen, Theater oder Konzerte nicht zu träumen. Oder ein Museumsbesuch! Das wäre was! Wie vor drei Jahren als Vater mich Schülerin der 9. Klasse auf seine Moskaureise mitgenommen, mir die Hauptstadt Russlands, und die berühmte Tretjakow-Gemäldegalerie gezeigt hatte. Das war eine Freude! Mit Genuss bewunderte ich die vielen weltberühmten Gemälde und Vater erzählte mir von ihnen. Da war eins! Schischkins „Winter“. Genau solch eine Wald­landschaft wie hier. Eine hohe Wand aus Bäumen und ein grauer Himmel über ihnen. Weiße Schneedecke bedeckt alle Unebenheiten des Waldbodens. Aber kein Pfad. Kein Le­benszeichen - nur unberührter Schnee und der dichte Wald. Stand der Künstler damals auch vor einer hoffnungslosen Wand in seinem Leben? Wie ich heute. Der russische Aufseher, die Entwürdigung, als Volksfeinde gestempelt, die zu geringe Nahrungsration, der undurchdringbare Wald setzen die Grenzen meines Lebens. Was erwartet mich, welche Zukunft? Dunkel. Ewige Nacht. Kein helles Pünktchen, kein Sternlein. Oder doch?

Auf dem Gemälde war doch auch hinter der dichten Wand der Bäume ein blasser gelblicher Flecken, der ein entferntes Licht andeutet. Vielleicht wird es auch in mei­nem Leben ein fernes Lichtlein geben. Ich schaue hinauf zum dunkeln Nachthimmel zu den so-o-o weit entfernten Sternen, die jetzt hier das einzige Licht sind. Zwinkern sie mir zu? Und spenden Hoffnung: Nicht verzagen! Durchhalten! Alles hat einmal ein Ende, auch der Krieg und die Verbannung.
Und die Nacht.